Oft sind es unscheinbar geplante Nebenwerke eines Autors, die die Literaturgeschichte verändern. Franz Tumler, jener Südtiroler Autor, der sein Geburtsland bereits mit einem Jahr verlassen hat, hat mit seinem dünnen Doppelwerk "Volterra. Wie entsteht Prosa" längst Literaturgeschichte geschrieben. Es vergeht kaum ein Seminar, in dem nicht der Text, der für eine Vorlesung 1961 geschrieben wurde, herangezogen würde.
Quasi als Einstimmung auf das vergriffene Werk Tumlers, das jetzt im Haymon Verlag wieder zugänglich gemacht wird, ist soeben der kultige Mini-Klassiker "Volterra. Wie entsteht Prosa" erschienen.
Das Versinken der Herbstsonne löst eine Erinnerung aus, wie während einer Reise nach Italien die Sonne versunken ist in Volterra. Der Ich-Erzähler versucht sich zu erinnern, stellt sich seltsame Fragen, die ihn blockieren, und erzählt vielleicht dadurch das Nicht-Geplante.
"Die Dämmerung kam rasch, und was an dem Ort sein sollte, wußten wir nicht." (29) Volterra und die gespiegelte Totenstadt Ansedonia sind offensichtlich aus Gründen der Abschweifung oder eines Fahrfehlers aufgesucht worden, beim Erzähler ist noch eine Frau dabei, aber das Verhältnis ist schon ziemlich erkaltet, obwohl manche Bilder in der Wir-Perspektive innig evoziert werden.
Der literarische und der essayistische Teil gehören vielleicht zusammen wie Präludium und Fuge. Im "erklärenden Teil" bezieht sich Tumler auf konkrete Fügungen aus Volterra, wenn er seine Schreibblockade erklärt, die zwei, drei wesentlichen Sätze, die die Geschichte zusammenhalten und ihn überhaupt ans Weiterschreiben haben denken lassen. Schließlich gibt es knappe Erklärungen zur Vorgangsweise des Schreibens.
"[Viele Schriftsteller] müssen es sofort aufschreiben - sie machen etwas durch Schreiben, nicht durch Denken. Es ist Kälte dabei, Abstand; aber sie sind nicht eine Art Haltung, die sich der Schriftsteller zulegt, sondern die einfache Bedingung, die er für das Auswählen, Prüfen, klarer-Sagen, besser-Hinschreiben braucht. Ein Vorrat von Gedächtnis, Assoziationen, Bedeutungen und Erfahrungen kommt dabei in Bewegung. Und er gilt oft nur einer unbedeutenden Wendung." (55)
Sechzig Jahre nach seinem ersten Erscheinen hat der Text nichts von seiner Kraft verloren, im Gegenteil, durch seine zeitlose Prägnanz zeigt er allen neuen Leser-Generationen, was wilde, heftige Literatur vermag: Den Leser auszuhebeln und in einen anderen Zustand zu versetzen.
Dabei bedient sich der Doppeltext der alten Dialektik von Frage und Antwort. "Volterra" wirft eine Unmenge von Fragen auf, die in "Wie entsteht Prosa" beantwortet werden, aber auch dieser Teil wirft wieder Fragen auf, deren Beantwortung man in Volterra heraus blättern muss. Ein unendliches Spiel, das den Leser nicht los lässt und ihn so nebenbei in Literatur-Trance versetzt. Volterra ist fast schon nicht mehr von dieser Welt!
Helmuth Schönauer (Pool Feuilleton//www.biblio.at)
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Haymon Verlag
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Tirolensie
ISBN:
978-3-85218-886-7
Beschreibung:
87 Seiten
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deutsch